Kategorien: Kultur
ABC der Bilder: Poesie, Pauker und Pennäler und eine Sehperle
Wenn der Sommer abgeblättert als Laubteppich am Boden liegt, kündet der Blätterwald wie jedes Jahr von Leselust und Augenauen, Buchstabenbändern und Fotoflüssen, von neuen bunten und schwarz-weißen Blättern, die zwischen Buchdeckeln liegen und Bühne sind. Dann lugt das neue Jahr vorwitzig um die Ecke und lädt zum Vor- und Nachdenken ein. Dann schweifen Blicke und Gedanken nach hinten, laufen nach vorn, der Zeit voraus, zu Weihnachten und zurück. Wir spazieren in den abgetanen Tagen wie in den Seiten eines Skizzenbuchs und suchen nach Spuren und Rückständen. In einem Drinnen. Draußen reißen klamme Kälte, jähe Böen viel an sich.
Dann heißt es wieder: Vor der Buchmesse ist nach der Buchmesse wie vor und nach dem Deutschen Fotobuchpreis. Das Künstlerbuch von Susanne Huth wird während der Buchmesse in Halle 4.1 P 539 gezeigt, wo die Wanderausstellung des Deutschen Fotobuchpreises 2011 zu sehen ist. Es war nominiert für den im deutschsprachigen Raum renommiertesten Preis für Fotobücher, der Fotografen aus aller Welt zeigt. In Frankfurt endet die europaweite Tournee der 181 ausgezeichneten Bücher; am 17. November werden die neuen Sieger des Deutschen Fotobuchpreises 2012 prämiert.
Vorhang auf für Wörter und Bilder. Zu entdecken gibt es viel, darunter einen schmalen Band „Poesie“, der von der Gegenwart der Vergangenheit erzählt.
Liebe Leute groß und klein, haltet mir dies Textchen rein, hört nicht mit dem Lesen auf, dann nimmt es einen schönen Lauf; und wenn Ihr an sein Ende kommt, wie es sich frommt, ist das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit einer Fotografin und einer Schriftstellerin und einem Buch, das die Zeit schmelzen lässt. Kurz, mit Poesie rundum, wie das Buch auch heißt. Es formt im Kopf den einstmals so vertrauten Satz: Das Poesiealbum ist tot, es lebe das Poesiealbum. Tot ist es noch lange nicht, auch wenn mancher Mund so spricht. Sag mir erst, was ihr’ Geschicht.
Ein Poesiealbum ist ein kleines leeres Buch, in das Freundinnen und Bekannte, Mutter und Vater, Onkel und Tanten, manchmal auch die Lieblingslehrer hineinschreiben, -kleben, malen. Meist Erbauungssprüche, pädagogisch wertvoll und altklug wie die Gedichte aus der Gartenlaube oder einem anderen Stammbuch, aber bitte mit Reim und möglichst wenig Leim. Ein Poesiealbum ist ein Buch voller Sprüche und Sentenzen, schlauer Sätze und Binsenweisheiten und Bildchen, glänzend und glitzernd ... Ein Poesiealbum ist ein Erinnerungsstück, das Herrmann und Sylvia Horn, Marcel und Kathrin Greiner vor dem inneren Auge ihre Namen wieder über und neben storeverhängte Kindergartenfenster malen lässt. Ein Poesiealbum ist oft ein quadratisches Buch, bezaubernd wie kleine Kinder, deren Charme man kaum widerstehen kann.
Seit dem 16. Jahrhundert ist es unter Studenten aus gutem Hause beliebt und macht aus dem Stammbuch mit nüchternen Familiendaten ein „album amicorum“, ein „Album der Freunde“, „in welches sich eines freunde und bekannte mit einem denkspruch eintragen, oft mit hinzufügung entsprechender zeichnungen, wie z. b. des wappens, der gesichtszüge u.s. w.“, wie es in Grimms Wörterbuch steht. Die „stammbuchblätter, mit zeichnungen, städteansichten u. s. w. geschmückt, waren in den papierhandlungen einzeln zu haben.“ Wichtig ist: Je mehr Einträge, desto beliebter die Person und desto größer das Ansehen. Seit dem 19. Jahrhundert nutzen auch Menschen anderer gesellschaftlicher Schichten das Stammbuch und machen es zu dem, was wir heute noch kennen: zu einem Freundschaftsbuch, das man Poesiealbum nennt.
Die Magdeburger Fotografin Susanne Huth hatte auch ein Poesiealbum, sie hat es immer noch. Und sie hat daraus, genauer aus Partikeln ein neues Poesiealbum gemacht. Sie hat Teile des alten eingescannt: da einen roten Ballerinaschuh, dort die runden Enden schwarzadriger Schmetterlingsflügel mit grünen Augen, die grob gerasterten Hinterteile eines Kinderpaars, das schnellen Schritts im Grünen geht, die getrockneten Blätter eines Kleeblatts, das keinen Stiel mehr hat, oder Schönschriftbuchstaben, mit blauer Tinte und breitfedrigem Füller hingemalt, die Zungenspitze machte angestrengt die Schreibbewegungen der Worte „wir“ und „hüler“ mit. Diese Schnipsel aus der Kinderzeit hat sie kombiniert mit Ausschnitten von der Schule, der 1973 neu gebauten Siedlung Magdeburg-Nord, die heute noch fast so stehen wie gebaut, sodass sich eins zum anderen fügt, als wär’s schon immer eins. Als wär der Efeuzweig auf einer von Kindern bemalten Wand die natürliche Fortsetzung des Lackbilds vom großen und kleinen Fliegenpilz, als wären die Äpfel im gemalten Korb das lebendige Pendant zu Abendrot und blattlosen Zweigen, die sich im Pastell von Fensterscheiben spiegeln.
Dann wird die Zeit blau, wie Nietzsche sagt, weil sie Pause macht. Dann lese ich das „Poesiealbum Magdeburg-Nord“, in dem Annett Gröschner die Geschichte des Neubaugebiets und der Entstehung des Buches erzählt. Und nebenbei schnuppere ich in eine ostdeutsche Kindheit. Eine weitere Entdeckung, die sich lohnt. Es scheint, als sei Magdeburg-Nord ein Hort für Kreativität und das Heranwachsen ausgezeichneter Künstlerinnen gewesen. Dort wohnten die Großeltern der heute in Berlin lebenden Schriftstellerin und Journalistin, die mehrfach ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie den Brandenburgischen Literaturpreis und 1989 den Anna-Seghers-Preis ... Anfang September erschien ihr Roman „Walpurgistag“.
Text: Dorina Zehn
Susanne Huth: Poesie
Text: Annett Gröschner (deutsch / englisch)
Hardcover, Leinen 19 x 14 cm, 64 Seiten
ISBN 978-3-902675-43-9
FOTOHOF edition 2010, Vol. 14, Salzburg
25,00 Euro